Nähe

nähe von dana berg


Nähe ist ein Wort, das ich bejahen muss. Zwar steht es auch auf den Titelseiten der Achtsamkeits-Magazine. Dennoch sehne ich mich danach. Ich will nah sein, an etwas dran, vor allem: jemandem nah sein.


Jemandem nah zu sein heißt, mich vergessen können und damit die Zukunft. Es ist die nächste Nähe. Aber Nähe ist schon, sich in die persönliche Distanzzone zu begeben, den mittleren von drei Abstandsbereichen: die gesellschaftliche Distanzzone (1-2 Meter), die persönliche Distanzzone (bis 1 Meter) und die intime Distanzzone (bis 60 Zentimeter).


Ich habe diese Grenzen wie unterschiedlich große Schwimmringe um mich gelegt. Für andere unsichtbar markieren sie das Territorium, das ich für meine Mitmenschen vorgesehen habe. Ich definiere den Raum anhand der Menschen, die mich umgeben. Ich reguliere unablässig nach, ändere den Raum für die Geliebten, die Freunde, Small-Talk-Begegnungen, Fremde. Jeder Raum ist anders, die meisten ahnen nicht davon.


Ich empfinde es als Störung und Anmaßung, begibt sich mein Gegenüber ohne Einladung in eine für ihn nicht vorgesehene Distanzzone: bei einem Kaufvorgang die Berührung mit der Wechselgeldhand des Kassierers, auf dem Gehweg ein Ausweichen erst in letzter Sekunde, wenn im Zugabteil neunundsiebzig Plätze frei sind und sie wählt den Platz neben mir, dem einzig Mitreisenden, der freundliche Erstkontakt, der mich gleich herzlich umarmt. Oder umgekehrt: eine Freundin bleibt mir fern, ein Freund verweigert die Nähe.


Grundsätzlich sehne ich mich nach Nähe. In der Pandemie muss ich überprüfen, was ich für diese Nähe aufs Spiel setze. Welche Risiken gehe ich ein, wenn ich jemandem gegenübertrete? Ich wäge ab, wann ich den Ein-Meter-Fünfzig-Aerosolsicherheitsabstand unterlaufe, bei welcher Gesprächspartnerin ich mich vorbeuge, bei welcher zurückweiche. In der Pandemie wähle ich aus, wen ich überhaupt treffe und damit Gelegenheit gebe, mir nahe zu kommen, wem ich von weitem nur zuwinke, mit wem ich besser eine Videokonferenz vereinbare.


Ich verzichte auf Nähe und damit auf die sozialen Gepflogenheiten, die Nähe herstellen, und die dafür sorgen, dass wir friedlich bleiben. Ich verzichte dafür auf vieles. Ich tue dies, um mich zu schützen, um andere zu schützen. Meine Distanzzonen überlagern sich mit den offiziellen Coronaschutzzonen. Diese Überlagerung erzeugt Verwirrung, verwirbelt die Begriffe nah und fern, freund und fremd.


In der Pandemie ziehe ich mich auf die bekannte Nähe zurück. Dort will ich sein, weil vereinbart wurde, dass wir für diese Nähe das Virus in Kauf nehmen würden, dass uns diese Nähe wichtiger ist als narbenlose Lungen.


Ich muss ehrlich sein. In vielen Momenten außerhalb der bekannten Nähe suche ich keine Nähe. In den meisten anderen Momenten will ich für mich sein. Ich will mich nicht nähern, weil jede Nähe bedeutet, mich zu verhalten. Dafür muss ich verstehen, in welcher sozialen Situation ich und mein Gegenüber uns befinden, in welcher Beziehung wir zueinanderstehen, in welche Distanzzonen wir uns deshalb gestatten einzudringen.


Dafür muss ich mein Gegenüber scannen, ahnen, was sie in uns sieht, in welche Schublade er diese kurzzeitige Begegnung einordnet. Dementsprechend muss ich agieren. Komme ich ihm zu nah, irritiere ich. Bleibe ich ihr zu fern, irritiere ich ebenfalls. Die richtige Nähe zu finden, ist ein ständiges Vor- und Zurück. Das Tänzeln, wenn es kein Flirten ist, kostet Kraft. Die Worte, die wir wechseln, sind ein ständiges Vergewissern, dass die gewählte Nähe uns beiden recht ist.


Die Irritation beginnt schon beim Gruß. Reiche ich die Hand, umarme ich, hauche ich einen angedeuteten Kuss auf die Wange? Wenn ja, wie intensiv soll das Hauchen sein und mit welcher Wange beginne ich? Nähe strengt an. Sie bereitet mir Sorge. Routiniert vermute ich, dass ich mich beim Herstellen von Nähe falsch, übergriffig, distanziert, letztlich asozial verhalte.


Die Pandemie befreit mich von dieser Sorge. Wir stoßen unsere Schuhspitzen aneinander und tauschen den Wuhanshake aus. Im Park kann ich weite Bogen um Menschen schlagen und werde dafür nicht missmutig, sondern dankbar angesehen. Auf der Straße winke ich von weitem zu und zucke bedauernd die Schultern, weil wir uns nicht näherkommen dürfen. Dafür ernte ich Verständnis. Die Pandemie verbietet Nähe. Sie entbindet mich von der ständigen Pflicht, mich verhalten zu müssen.


(sp)